Verlorengegangene Ausdrucksformen

Wir leben in einer unglaublichen Zeit. Klassische Tradition, Musik verschiedener Kulturen, Jazz, und auch die experimentelle Avantgarde kämpfen um die Gunst einer neuen Generation. In diesem Chaos von Vorstellungen ist es unmöglich, sich einer einzigen Ästhetik zu verschreiben. Keiner dieser Formen ist offensichtlich der anderen überlegen. In Zeiten allgegenwärtigen Eklektizismus ist es schwer, aufzuzeigen und zu bestimmen, welche Form von Musik dafür am geeignetsten ist, ob und in welchem Maße Musik die Entwicklung der Gesellschaft beeinflussen kann. Trotzdem entsteht eine neue Art von Musik aus diesem Chaos.

Seit mehreren Jahren beschäftige ich mich mit der Welt der sogenannten "Freien Improvisation" und erforsche dabei den Einsatz von Elektronik und neuen Technologien in der Improvisation.

Mehrere Veränderungen im Verlauf der Musikgeschichte haben zur Abnahme der Improvisation in der abendländischen Kunst geführt. Melodik, Rhythmik und Harmonik sind zunehmend komplexer geworden, so dass der Interpret die Fähigkeit zu improvisieren verlor.

Improvisation in der Musik war immer treibende Kraft musikalischer Praxis. Es wurde immer improvisiert – in allen ethnischen Musiken der Völker sowie in vielen Formen von Vokalmusik. Improvisation und die verschiedenen Gattungen, Stile und Formen in der gesamten Entwicklung der Musik gehörten immer zusammen.

Die Improvisation in unseren Zeit ist erneut zu einem wichtigen Element in der Entwicklung und Bewahrung einer gemeinsamen Musiksprache geworden.

Durch meine Tätigkeit als improvisierender Musiker stellte ich fest, dass Freie Improvisation sehr nah am akustischen Resultat einer aufgeschriebenen Komposition ist und ihr in nichts nachsteht.

Zeitgenössische Improvisation

Zeitgenössische Improvisation verstehe ich in diesem Zusammenhang als rettende Brücke, eine Möglichkeit sich wieder an das Wesentliche in der Musik zu wenden, sich als Schöpfer zu fühlen und somit als eine direkte Vorstufe zur Komposition zu sehen. Allerdings, um dem heutigen modernen Anspruch zu genügen, muss sie bestimmte Merkmale zeitgenössischen Komposition nachweisen.

Aus diesem Grund habe ich eine Serie von Masterklassen, bzw Workshops entwickelt, in denen ich zusammen mit den Teilnehmern versuche, folgenden Fragestellungen praktisch nachzugehen:

  • Welche moderne Kompositionstechniken funktionieren im Impro-Live-Verfahren?
  • Welcher Formen und Strukturen der musikalischen Organisation braucht man, um einer Komposition gerecht zu werden?

Dazu erforschen wir spielend die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Komposition und Improvisation. In speziellen Übungen beschäftigen wir uns mit einigen Grundformen der Melodie, um einen kleinen Schwerpunkt bei der melodischen Gestaltung in der Improvisation zu setzen. Danach arbeiten wir an einigen Modellen der Klangzeit-Organisation. Damit gehen wir auf einige allgemeingültige Formstrukturen ein.

Weiter unten sind einige Links aufgeführt, die diese Arbeit dokumentieren, bzw. neue Teilnehmer anregen sollen. Doch zunächst eine Formanalyse eines Auftrittes, die ich im Rahmen meiner Doktorarbeit angefertigt habe:

Free Improvisation: Initio-Motus-Terminus - Eine Form-Analyse nach B. Assafiew
Peter Brötzmann (Tenor-Saxophon), Anto Pett (Piano), Vlady Bystrov (Alt-Saxophon) beim Festival "Drei Tage für Neue Musik" in Braunschweig am 19.10.2017 (Video).

Persönliche Ausdrucksweisen

Ein moderner Künstler bedient heute eine Vielzahl von Hilfsmitteln in Form von Hard- und Software- sein Interesse beruht auf der Erforschung und dem Gebrauch von performativen, expressiven Merkmalen spezifischer instrumentaler Praktiken. Die Suche nach sinnvollen und effektiven musikalischen Verhaltensweisen ist der erste wichtige Schritt für die Entwicklung einer Technologie und von Modellen, die musikalische Interaktionen vermitteln können.

So wird die persönliche innere Suche einer der zentralen Aspekte des hier zusammen mit den Teilnehmern entwickelten künstlerischen Weges.

Musikalisch soll dieser Bogen von einem Klangspektrum geschlagen werden, das von einer zunächst konventionellen Interpretation ausgewählter Stücke, z.B. aus dem Kontext der Solo-Stücke, über werkimmanente „brüchige“ kompositorische Arbeiten bis zu „neutönerischen“ Bearbeitungen mittels verschiedener Stilelemente der Neuen Musik reicht.